"...die Symphonie alles Stückwerk... niemand wird verstehen... niemand... niemand.
Paß' auf, daß niemand daran herumpfuscht... niemand könnte
verstehen...niemand daran herumpfuschen. Ich denke, es wäre besser, wenn Du sie
verbrennst. "
Gibt es etwas Eindeutigeres als Elgars Worte an seinen Freund W H Reed, die er
im
November 1933 im Schatten des Todes sprach? Und dennoch hatte Elgar noch einige Tage zuvor
zu seinem Arzt gesagt, als er von seinem unheilbaren Krebs erfuhr: "Wenn ich die dritte
Symphonie nicht vollenden kann, wird es ein anderer tun - oder eine bessere schreiben - in 50 oder
500 Jahren. Aus meiner jetzigen Perspektive gesehen, am Rande der Ewigkeit, erscheint dies nur
wie ein Augenblick."
Die moralische Frage, die sich mit der 'Vollendung' unfertiger Werke stellt, ist nirgendwo
komplexer als im Bereich der Musik. Für die Mehrzahl jener, die keine Noten lesen
können, bedarf die Musik, um gehört werden zu können, eines Vermittlers.
Jeder kann ein unvollendetes Buch oder Gedicht lesen, jeder kann ein unfertiges Bild oder eine
Skulptur betrachten und verstehen: ohne Intervention von außen ist ein unvollendetes
Musikstück jedoch dazu verurteilt, ungehört zu bleiben. In solchen Fällen wie
Mozarts Requiem, Mahlers 10. Symphonie, Puccinis
Turandot, Bergs Lulu oder Bartóks Violakonzert hat
die Rekonstruktionsarbeit obwohl immer etwas umstritten, ungeheuer zu unserem
Verständnis dieser Komponisten beigetragen, und die Werke wurden ins Repertoire
aufgenommen. Umstrittenere Fälle, wo das Überlieferte weniger bedeutsam ist -
Beethovens 10. Symphonie, Schuberts 8. und 10. Symphonien,
Debussys Der Fall des Hauses Usher, Skrjabins
VorbereitenderAkt - sind eher musikwissenschaftliche Kuriositäten als echte Werke.
Aber selbst in jenen extremen Fällen, wo die Musik kaum dem ähnelt, was der
Komponist beabsichtigt haben mag (und der Komponist wäre von der Rekonstruktion wohl
kaum begeistert gewesen), wird dem Ruf des Komponisten kein Schaden zugefügt durch
das Werk, das etwas zum Leben erweckt hat, das ansonsten für immer zum Schweigen
verurteilt gewesen wäre.
Der Status von Elgars 3. Symphonie war seit dem Tod des Komponisten umstritten.
Gegner des Versuchs der Vollendung zitierten häufig neben Elgars eigenen Worten auch
die Vereinbarung, die zwischen Elgars Tochter Carice und der BBC, dem Auftraggeber
des Werks, getroffen worden war, aufgrund derer sie der BBC die Manuskriptskizzen gab (sie
wurden seitdem in der British Library deponiert). Diese Vereinbarung besagt eindeutig, daß
niemand Zugang zu dem Manuskript haben dürfte "zum Zweck der Fertigstellung oder
Vornehmens irgendeiner Veränderung", und ihre wichtigste Klausel war die Verpflichtung,
daß "kein Teil des erwahnten Manuskripts ganz oder zum Teil veröffentlicht werden
darf". Dennoch veröffentlichte WH Reed kaum ein Jahr nach Elgars Tod Elgar, wie
ich ihn kannte mit einem Faksimile von mehr als 40 der wichtigsten Seiten des
Manuskripts, nachdem er bereits 1934 die Vereinbarung mit einem großen Aufsatz in
The Listener, dem Magazin der BBC, gebrochen hatte. Und Carice selbst war
1968 bereit, ein BBC-Projekt zur Realisierung der Skizzen gutzuheißen, das aber letztlich
nicht zustandekam.
Wie kam es dazu, daß sich Elgars engster Freund Reed so verhielt? Er hatte Elgar
versprochen, daß niemand damit "pfuschen" würde, hatte jedoch nicht zugestimmt,
die Skizzen zu verbrennen. Laut Reed bestand Elgar nicht auf ihrer Vernichtung wahrend seiner
letzten drei Lebensmonate - er besprach die Symphonie sogar ausführlich mit Ernest
Newman, einen Monat nachdem er um ihre Verbrennung gebeten hatte, und kopierte den
Anfang
und das Ende des langsamen Satzes für ihn in einem Brief. Reeds rührende
Schilderung von Elgars Worten sollte uns nicht von der Tatsache ablenken, daß der
Komponist sein ganzes Leben lang zu solchen dramatischen Ausbrüchen neigte, wie Reed
sehr wohl wußte.
Indem er die Skizzen ausschnittweise veröffentlichte, meinte Reed vermutlich, jenen
Standpunkt zu unterstützen, der dafür plädierte, daß die Symphonie in
Ruhe gelassen werden sollte, auch indem er enthüllte, was er für die
Unvollständigkeit von Elgars letzten Gedanken hielt - welche er als "nebulös...
bedauerlicherweise zusammenhanglos" beschrieb. Die meisten, die sich die Skizzen betrachtet
haben, folgten Reeds Beispiel. Aber selbst Reed, der sie häufig mit Elgar gespielt hatte, war
nicht in der Lage, die Skizzen angemessen zu interpretieren, er gab zum Beispiel die falsche
Reihenfolge für zwei isolierten Partiturseiten des ersten Satzes an und fügte hinzu,
"es ist schwierig, zu entscheiden, wohin sie eigentlich gehören". Dennoch hatte er mehrere
Seiten zuvor genau dieselbe Musik in Elgars Skizze wiedergegeben, wo sie klar "leitet nach der
Reprise zum zweiten Erscheinen des zweiten Themas über" überschrieben ist.
Obwohl es eindeutig nicht seine Absicht war, führte Reeds Veröffentlichung der
Skizzen zwangsläufig dazu, daß früher oder spater jemand versuchen
würde, die Symphonie zu rekonstruieren, da das von ihm Veröffentlichte letztlich
nicht mehr geschützt war. Wären die Skizzen vernichtet worden, und hätte
Reed nicht Carice Elgars Vereinbarung mit der BBC gebrochen und einen so großen Teil
von ihnen wiedergegeben, waren sie ein stiller Zeuge von Elgars letzten Jahren geblieben. Wenn
Elgars Copyright jedoch im Jahr 2005 erlischt, ist niemand in der Lage, eine Rekonstruktion auf
der Basis der veröffentlichten Skizzen zu verhindern, obwohl sie alles andere als
vollständig sind (das Manuskript in der British Library enthält mehr als 130 Seiten).
Aus diesem Grund ist es außerst realistisch von Elgars Erben, Anthony Paynes
'Ausarbeitung' - eine sorgfältig ausgewahlte Bezeichnung - gebilligt zu haben, da sie jetzt
noch in der Lage sind, auf seine Aufführung und Veröffentlichung Einfluß zu
nehmen.
Der rechtliche Status der Skizzen ist jedoch von geringerer Bedeutung. Wichtiger ist die
Streitfrage, ob das Werk eine Stufe erreicht hatte, auf der seine Rekonstruktion mehr als
bloße Raterei ist, und genauso wichtig, ob die Qualität des überlieferten
Materials eine solche Rekonstruktion rechtfertigt. Es herrscht allgemein die Auffassung, daß
Elgar, der während zwölf Jahren ziemlich wenig geschrieben hatte, keine Ideen mehr
hatte und bloß halbherzig frühere Skizzen wiederverwertete, um die Symphonie
anzureichern. Es stimmt, zwar, daß ein großer Teil der Musik für andere
Gelegenheiten geschrieben worden war oder aus verworfenen Projekten stammte: dies
unterscheidet sich jedoch kaum von Elgars Arbeitsweise zu Lebzeiten. Es ist jedoch viel wichtiger,
daß es auch neu komponiertes Material gibt, das auf Kraft und Inspiration hindeutet -
besonders im Finale, das ansonsten der am wenigsten vollständige der vier Sätze ist
- sowie eine detaillierte Beschriftung und Uberarbeitung der Skizzen, die zeigen, wie sehr Elgar
an der Komposition interessiert war. Man kann kaum verstehen, daß jene, die das gesamte
Material betrachtet haben - nicht nur das von Reed veröffentlichte - nicht die Energie und
den Enthusiasmus sahen, mit der Elgar die Symphonie anging, und wie weit er damit gekommen
war. Was fehlt, ist weniger die Entwicklung (die zum großen Teil implizit ist) als vielmehr
die Zusammenfügung des Materials - eine Folge von Elgars üblicher Gewohnheit, ein
Werk erst dann fertigzustellen, wenn er es in Partitur schrieb. Er hatte kurz zuvor damit
begonnen, als seine tödliche Krankheit einsetzte, und es können kaum Zweifel
bestehen, daß die Symphonie seiner Meinung nach mehr oder weniger vollständig
war.
Es ist unvermeidlich, daß Anthony Paynes Ausarbeitung der Skizzen der 3.
Symphonie mit Deryck Cookes praktischer Ausgabe von Mahlers 10.
Symphonie verglichen wird. Sie läßt sich auf keinen Fall vergleichen, da Mahler eine
vollständige Skizze der 10. ohne einen fehlenden Takt entworfen hatte. Weil Mahler seine
Skizze jedoch hastig vollendete, enthält sie viele Schwächen hinsichtlich der Textur
und Struktur: vieles hätte er sicherlich neu komponiert, wäre er nicht gestorben.
Dennoch sind die Architektur und Kraft seiner Ideen so stark, daß die Rekonstruktionsarbeit
die Symphonie selbst in diesem unvollständigen Zustand zum Leben erweckt. Und da die
Musik, die Elgar für die dritte Symphonie entwarf, ebenso mächtig und
unwiderstehlich ist, bleibt ihre bemerkenswerte Qualität erhalten, ungeachtet der Tatsache,
daß jemand für den Komponisten einspringen mußte, um das Werk zu seiner
endgültigen Gestalt zu bringen. Natürlich kann man nicht so tun, als handle es sich
hier um die Symphonie, wie Elgar sie vollendet hätte. Vielmehr bietet sich hier die seltene
Gelegenheit, die letzten Gedanken eines großen Komponisten zu hören.
Was ist letztlich die Alternative? Darf die dritte Symphonie nicht gehört werden, da
Elgar in seiner dunkelsten Stunde ihre Vernichtung verlangt hatte? Sollte die Meinung
vorherrschen, daß es besser wäre (besser für wen?), daß jeder Versuch
einer Realisierung der Symphonie nicht aufgeführt werden sollte? Der deutsche
Musikwissenschaftler und Philosoph Adorno sagte über Mahler: "Danach neigt
der Autor der Ansicht zu, es solle, gerade wer die außerordentliche Tragweite der
Konzeption
der Zehnten spürt, auf Bearbeitungen und Aufführungen verzichten. Auch Skizzen
von Meistern zu unausgeführten Bildern wird, wer sie versteht und wer sich ausmalt, wie
etwa sie vollendet worden wären, lieber in eine Mappe legen und sie für sich
betrachten, als sie an die Wand hängen". Eine solche Meinung erscheint unglaublich
selbstsüchtig und arrogant, und die Vorstellung von vollendeter Musik, die nur dem
Privatvergnügen von Musikwissenschaftlern vorbehalten ist, zutiefst unangenehm. Wie auch
immer, Elgars Skizzen der dritten Symphonie sind uns überliefert. Aufgrund seiner langen
Arbeit an ihnen, mit der einzigartigen Einsicht eines Komponisten und seiner tiefen Liebe zu und
dem Verständnis für Elgars Musik, hat Anthony Payne sie vor dem Verstummen
bewahrt, und man kann ihm dafür nur ungeheur dankbar sein.
© Colin Matthews, 1997
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